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Montag, den 11. April 2016 Uhr

Untersuchungspflicht und Rügepflicht des Kaufmanns nach § 377 HGB – Rechtsanwalt zum Thema

Rechtsgebiete: Handelsrecht & Vertriebsrecht

§ 377 HGB soll den Verkäufer vor einer Inanspruchnahme durch den Käufer wegen Mängeln nach Ablauf einer längeren Zeit schützen, da dann regelmäßig nicht mehr feststellbar ist, wann die Mängel eingetreten sind. Dadurch soll die Einfachheit und Schnelligkeit des Handelsverkehrs gefördert werden. Einerseits ist die Norm aus sich heraus gut verständlich aufgebaut und weitgehend selbsterklärend. Andererseits enthält sie jedoch eine Reihe von unklaren Rechtsbegriffen (z.B. „unverzüglich“, „tunlich“, „Mangel“ u.a.) die im jeweiligen Einzelfall der Konkretisierung anhand der einschlägigen Rechtsprechung durch einen erfahrenen Anwalt bedürfen. Nur so kann im konkreten Streitfall ermittelt werden welche Rechte und Pflichten Käufer und Verkäufer haben. Rechtsanwalt Dr. Louis Rönsberg erläutert im Folgenden die wesentliche Grundstruktur des § 377 HGB mit Hinweisen auf die einschlägige Rechtsprechung.

Grundstruktur des § 377 HGB

Gemäß § 377 Abs. 1 HGB hat ein Kaufmann bei einem beidseitigen Handelsgeschäft die Obliegenheit die Ware „unverzüglich“ nach der Ablieferung durch den Verkäufer zu untersuchen und festgestellte Mängel dem Verkäufer unverzüglich anzuzeigen. Unterlässt der Käufer die Anzeige, so gilt die Ware gem. § 377 Abs. 2 HGB als genehmigt. Das gilt nur dann nicht, wenn der Mangel bei der Untersuchung nicht erkennbar war. Zeigt sich später ein Mangel, so muss der Käufer diesen gem. § 377 Abs. 3 HGB unverzüglich nach der Entdeckung anzeigen, sonst gilt die Ware mit Mangel als genehmigt. Etwas anderes gilt, wenn der Verkäufer den Mangel arglistig verschwiegen hat. Denn dann darf er sich gem. § 377 Abs. 5 HGB nicht auf die Rügeobliegenheit berufen.

Beiderseitiges Handelsgeschäft, §§ 343, 344 HGB

Ist im Einzelfall fraglich, ob eine Untersuchungspflicht und Rügepflicht bestand, so prüft der Rechtsanwalt zunächst, ob ein beiderseitiges Handelsgeschäft vorlag. Dazu muss es sich bei beiden Vertragsparteien d.h. beim Verkäufer und Käufer um „Kaufleute“ im Rechtssinne gehandelt haben. Das Handelsgesetzbuch kennt sechs verschiedene Arten von Kaufleuten, die in den Paragrafen 1 bis 6 HGB geregelt sind. Wichtig ist insbesondere § 1 HGB, wonach jemand automatisch dadurch „Kaufmann“ im Sinne des Gesetztes wird, wenn er ein Gewerbe betreibt, dass einen „in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb“ erfordert (sog. „Istkaufmann“). Ab wann ein „in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb“ vorliegt und erforderlich ist, muss im Einzelfall bestimmt werden. Es hängt von der Größe des Betriebes und verschiedenen anderen Faktoren ab, die von der Rechtsprechung entwickelt wurden. Der Anwalt muss daher die Kaufmannseigenschaft in Zweifelsfällen anhand dieser Kriterien individuell überprüfen.

Als Kaufmann i.S.d. HGB muss sich nach der Rechtsprechung auch behandeln lassen, wer durch sein Verhalten den Anschein erweckt oder unterhält, ein Kaufmann in diesem Sinne zu sein (sog. „Scheinkaufmann“), sofern ein gutgläubiger Dritter sein Handeln von diesem Anschein bestimmen lässt. Dies gilt jedoch nicht zu Gunsten des Scheinkaufmanns als Verkäufer. Der Scheinkaufmann ist im Gesetz nicht geregelt, sondern beruht auf einer analogen Anwendung des § 5 HGB i.V.m. § 242 BGB. Darüber hinaus gilt gem. § 5 HGB als Kaufmann, wer mit seiner Firma ins Handelsregister eingetragen (sog. „Fiktivkaufmann“). Auch eine Personenhandelsgesellschaft wie eine OHG, KG oder GmbH & Co KG wird erst zur „Handelsgesellschaft“ und zum „Kaufmann“, wenn sie ein Handelsgewerbe betreibt (§ 1 HGB) oder im Handelsregister eingetragen ist (§ 6 HGB). Kapitalgesellschaften wie die GmbH oder AG entstehen erst durch die Eintragung und sind dann gem. § 6 HBG automatisch Kaufläute im Sinne des Gesetzes.

Damit die kaufmännische Untersuchungs- und Rügeobliegenheit des § 377 HGB anwendbar ist, muss zudem ein „beiderseitiges“ Handelsgeschäft vorliegen. Das ist gem. § 343 HGB geben, wenn das Geschäft auf beiden Seiten zum jeweiligen Betrieb des Handelsgewerbes gehören. Bei einem Kaufmann zählen dazu gem. § 344 Abs. 1 HGB im Zweifel alle Geschäfte.

„Ablieferung“ i.S.d. § 377 Abs. 1 HGB

Die Untersuchungs- und Rügepflicht beginnt gem. § 377 Abs. 1 HGB mit der „Ablieferung“ der Ware. Diese ist nach der Rechtsprechung des BGH erfolgt, wenn die Sache dem Empfänger oder dem von ihm beauftragten Spediteur, Frachtführer o.ä. in der Art zugänglich gemacht d.h. in seinen Machtbereich oder Gewahrsam gebracht wird, dass er sie auf ihre Beschaffenheit prüfen kann. Es kommt also darauf an, ab wann der Käufer eine tatsächliche Verfügungs- und damit auch Untersuchungsmöglichkeit des Gegenstandes hat. Ob die Untersuchung schwierig oder langwierig ist, spielt für den Zeitpunkt der Ablieferung keine Rolle. Bei Kaufverträgen setzt die „Ablieferung“ in der Regel die vollständige Lieferung voraus.

„Mangel“ i.S.d. § 377 Abs. 1 HGB

Ob ein „Mangel“ i.S.d. § 377 Abs. 1 HGB vorliegt, bestimmt sich nach den Vorschriften des BGB (§§ 434ff. BGB). Denn § 377 HGB lässt die allgemeinen kaufrechtlichen Mängelansprüche grundsätzlich unberührt und regelt nur ergänzend den Fall der verspäteten Rüge unter Kaufleuten. Fehlende oder mangelhafte Verpackung stellt nach der Rechtsprechung des BGH nur dann einen Mangel dar, wenn von dieser die Haltbarkeit der Ware, ihr Wert oder die Weiterverkaufsmöglichkeit abhängt oder wenn die Originalverpackung die Ware kennzeichnet. Die Falschlieferung (Aliud-Lieferung) ist zwar kein Mangel, ist diesem aber gesetzlich gleichgestellt. Daher muss auch bei der Lieferung einer offensichtlich anderen Sache gem. § 377 HGB gerügt werden. Das gilt nicht für Fälle der offensichtlichen Verwechslung und der Unterbreitung eines neuen Vertragsangebots durch Zusendung unbestellter Ware.

Gemäß § 343 Abs. 3 Alt 2 BGB stellt auch die Lieferung einer geringeren als der vereinbarten Menge (Zuweniglieferung, Mankolieferung) einen Mangel dar. Die Zuviellieferung oder Mehrlieferung ist dagegen in § 434 BGB gerade nicht geregelt. Nachdem der Käufer den überschießenden Teil der Lieferung nicht gekauft hat, muss er ihn auch nicht bezahlten. Bemerkt der Verkäufer allerdings die Zuviellieferung, so kann er vom Käufer ggf. die Rückgabe des zuvielgelieferten Teils gem. § 812 BGB verlangen. Nimmt der Käufer den zuvielgelieferten Teil in Gebrauch, so kann es jedoch u.U. zu einer stillschweigenden (konkludenten) Vertragserweiterung kommen.

„Unverzüglich“ i.S.d. § 377 Abs. 1 HGB

Gemäß § 377 Abs. 1 HGB muss die Anzeige bzw. Rüge „unverzüglich“ erfolgen. „Unverzüglich“ bedeutet gemäß der Legaldefinition in § 121 BGB „ohne schuldhaftes Zögern“. Der Maßstab ist dabei je nach der jeweiligen Branche und Betriebsgröße sowie nach der Art der Ware (Lebensmittel, Weine, Maschinen usw.) unterschiedlich. Auf die besonderen Verhältnisse des Käufers wie z.B. individuelle Ruhetage oder schlecht qualifiziertes Personal, kommt es nicht an. Als ungefährer Richtwert kann nach der Rechtsprechung ungefähr eine Woche als „unverzüglich“ i.S.d. § 377 Abs. 1 HGB gelten. Je nachdem ob es sich um eine einfache Ware, ein kompliziertes technisches Gerät oder schnell verderbliche Güter (Obst, Gemüse, Fisch) handelt, kann die Frist aber auch kürzer (im Extremfall Stunden) oder länger (ein paar Wochen oder sogar bis zu zwei Monaten) ausfallen. Im Einzelfall wird der Rechtsanwalt den ungefähren Rahmen der „Rügefrist“ anhand der Rechtsprechung ermitteln.

„Tunlichkeit“ i.S.d. § 377 Abs. 1 HGB

Gemäß § 377 Abs. 1 HGB muss die Untersuchung der Ware unverzüglich nach der Ablieferung durch den Verkäufer erfolgen, „soweit dies nach ordnungsmäßigem Geschäftsgang tunlich ist“. D.h. die Art und Weise der Untersuchung muss für den Käufer nach den Umständen des Einzelfalls zumutbar sein. So können etwa bei einer großen Warenmenge auch aussagefähige Stichproben genügen. Dies kann wiederum anders sein, wenn es sich um originalverpackte Markenware handelt und der durch die Stichproben entstehende Schaden an der Verpackung das Maß des Zumutbaren überschreitet. Wieder anders kann der Fall zu bewerten sein, wenn konkrete Anhaltspunkte für Mängel vorlagen. Auch hier wird der Anwalt im konkreten Einzelfall anhand der Rechtsprechung zur Mängelrüge ermitteln, ob eine Untersuchung tunlich ist oder war.

Fehlt dem Käufer die erforderliche Sachkunde zur Überprüfung der Ware, so muss er – je nach Natur der Ware und Branchenüblichkeit – einen Sachkundigen hinzuziehen. Die Untersuchungsobliegenheit gilt auch im Zwischenhandel und bei Übernahme der Ware im nicht einsehbaren Zustand. Verdeckte Mängel können dagegen sinnvollerweise erst gerügt werden, wenn sie sich später zeigen. Bei Sukzessivlieferungsvertrag ist regelmäßig jede Einzellieferung zu untersuchen, auch wenn sie denselben Mangel aufweist.

„Anzeige“ des Mangels i.S.d. § 377 Abs. 4 HGB

Gemäß § 377 Abs. 4 HGB genügt zur Erhaltung der Rechte des Käufers die rechtzeitige Absendung der Anzeige. Diese Anzeige muss auf geschäftsübliche, zuverlässige Weise erfolgen, ist aber grundsätzlich formlos möglich d.h. auch als Fax oder E-Mail. Der Verkäufer muss der Rüge Art und Umfang der Mängel entnehmen können, damit er die Beanstandung prüfen, den Mängeln ggf. abhelfen oder für einen eventuellen Rechtsstreit Beweismittel sichern kann. Rügt der Käufer die Mängel nicht rechtzeitig, so gilt die Ware gem. § 377 Abs. 2 und 3 HGB als genehmigt und ist von nun an insoweit als vertragsgemäß anzusehen (vgl. BGH NJW 80, 784). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes reicht auch eine Rüge ohne vorhergehende Untersuchung aus, die etwa auf Verdacht hin oder aufgrund von anderweitig erlangter Erkenntnis erfolgt.

Der Verkäufer kann Ansprüchen des Käufers wegen Mängeln der Ware den Versäumungseinwand entgegenhalten, eine im Gerichtsverfahren von Amts wegen zu berücksichtigende Einwendung (BGH, NJW 80, 784). Der Rechtsverlust umfasst dann alle Rechte, die auf dem nicht oder zu spät gerügten Mangel beruhen. Dies sind alle gesetzlichen Nacherfüllungs- und Gewährleistungsrechte i.S.d. § 437 BGB, d.h. Nacherfüllung, Rücktritt, Minderung, Schadensersatz und Ersatz vergeblicher Aufwendungen. Der Käufer verliert aber auch darüber hinaus alle Rechte, d.h. alle Gewährleistungsansprüche im weiteren Sinne wie z.B. Schadensersatz wegen der Verletzung von mit dem Mangel zusammenhängenden Nebenpflichten i.S.d. § 280 Abs. 1 BGB (BGH NJW 92, 914). Nicht ausgeschlossen sind dagegen Ansprüche aus unerlaubter Handlung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB, auch wenn sie auf dem Mangel beruhen (vgl. BGH 101, 337, 105, 357).

Einschränkung der Rügeobliegenheit durch AGB

Gemäß § 307 Abs. 1 und 2 BGB ist in Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) eine Verschärfung von Rügepflichten über § 377 HGB hinaus regelmäßig unwirksam wenn sie etwa zum Ausschluss jeder Haftung für verborgene Mängel führt, etwa bei einer Reduzierung der Rügeobliegenheit auf den Zeitpunkt der Ablieferung oder ohne Rücksicht auf die Erkennbarkeit. Eine Rügeklausel in AGB mit Anspruchsverlust ist nach der Rechtsprechung nur zu rechtfertigen, wenn sie dadurch bedingt ist, dass der Käufer zumutbaren Obliegenheiten nicht nachkommt. So hat der BGH etwa eine Klausel über die Rüge auch verborgener Mängel nur binnen dreier Tage für unwirksam gehalten (vgl. BGH 115, 326). Eine AGB-Klausel die bei offenen Mängeln eine Rügefrist von bis zu zwei Wochen ab Entdecken setzt, kann dagegen wirksam sein (vgl. Mü OLGR 98, 298). Im Rahmen von freien Individualvereinbarungen (d.h. keine AGB) ist § 377 HGB dagegen grundsätzlich abdingbar. Die Rügepflicht kann hier ganz aufgehoben, verschärft oder gemildert werden.

Fazit

Die Rügeobliegenheit des § 377 HGB ist im Handelsverkehr von erheblicher Relevanz und führt nicht selten zu Streitigkeiten die vor Gericht enden. Kommt es zum Gerichtsverfahren, so ist auch die Verteilung der Beweislast zu beachten. So trägt etwa der Verkäufer die Beweislast für die Kaufmannseigenschaft beider Vertragsparteien sowie für die Klassifizierung als Handelsgeschäft und für die Ablieferung. Die Beweislast für die unverzügliche Untersuchung der Ware trägt dagegen der Käufer. Für Rückfragen zur Rügeobliegenheit des § 377 HGB oder für andere Fragen zum Handelsrecht steht Ihnen Rechtsanwalt Dr. Louis Rönsberg oder ein anderer Anwalt der Kanzlei gerne zur Verfügung.

Verfasser des Artikels

Dr. Louis Rönsberg

Rechtsanwalt, Partner
Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht
Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht

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